Foto von Menschen an einem Bahnhof

Eher selten in England — Ankunft an einem Bahnhof

Football and you won't come home

Auf den Spuren der Traditionen im englischen Fußball

Endlich mal wieder für ein verlängertes Wochenende auf Besuch in London. Was steht auf dem Plan für die Tage in einer der kulturellen Metropolen dieser Erde? Klare Sache: Pubs, Pints und Pöhlen. Fußball bei den selbsternannten Erfindern des Sports und der dazugehörigen Begleiterscheinungen rund um das Spiel mit dem Ledernen, das damals ins Hölzerne musste und heute ins Aluminiumne muss.

Hatte ich zuvor in London schon ein paar Spiele der ersten Liga und im FA Cup in Chelsea, Tottenham, Arsenal oder Fulham gesehen, war es mir nun wegen der WM-Qualifikationsspiele sogar vergönnt, auch mal ein unterklassiges Spiel zu sehen bzw. falsch, ich sah es nicht, aber ich hatte die vergnügliche Absicht dazu. Im Nachhinein erweist sich dieser Besuch-Versuch überraschenderweise als zutiefst horizonterweiternd. Ärgerlich natürlich ein Fußballspiel verpasst zu haben, erfreulich aber dafür, dass ich Antworten auf Fragen gefunden habe, die man sich ab und an schon gestellt hat, aber nie eindringlich reflektieren wollte:

Warum gibt es bspw. in London, also in nur einer Stadt, so viele Profifußball-Mannschaften? Warum neigen viele englische Stadionbesucher seit jeher zu einer gewissen Aggressivität? Warum hat die erste Liga exakt 20 Vereine? Warum mögen die Fans es nicht, wenn die Spieler liegen bleiben? Und da ich eh gerade beim Denken war, konnte ich zudem das erste englische WM-Qualifikationsspiel in Österreich samt Kapitalfehler von Nati-Keeper James nutzen und die Frage ergründen, warum die Spieler und vermutlich auch die Trainer (außer Sammer und Hitzfeld sowie die Nati-Trainer ab Klinsmann) durchschnittlich mehr als in Deutschland verdienen?

Aber der Reihe nach.

Samstag, der 04.09.04.

Auf dem Programm steht eine Reise nach Colchester zum Spiel gegen Swindon Town. Demgemäß die Frage an meinen Gastgeber, auf welchem Wege ich denn am schnellsten den gewünschten Ort erreichen möge. Der schnellste Weg sei die U-Bahn („tube“ im Londoner Sprachgebrauch), also zunächst mit dem Bus zur tube und dann via Circle oder District Line zum Bahnhof Waterloo, wo bestimmt eine Bahn gen Colchester fahre. Dieser Reiseplan mochte eine gute Wahl sein, aber von meinem Besuch des Themse-Ufers am Morgen hatte ich noch in Erinnerung, dass am Wochenende zwischen dem 03.09. und dem 06.09. zwischen Whitechapel und Earl's Court weder die District Line noch die Circle Line verkehre.

Warum gibt es bspw. in London, also einer Stadt, so viele Profimannschaften?

Damit waren zwei nicht unwesentliche Bestandteile des Londoner U-Bahn-Verkehrs einfach mal ersatzlos vom Netz genommen worden. Derartige Informationen erhält man — wie uns später auf Nachfrage bestätigt wurde — zum einen nicht nur in London, sondern im ganzen Königreich und zum anderen ja nicht immer zufällig einen Tag vorher. So macht es durchaus Sinn, möglichst viele Vereine innerhalb einer Stadt (Liverpool, Manchester) oder einer Region (Leeds, Bolton u.a.) zu haben, so dass auch alternative Anreisewege nicht mehrere Stunden dauern. Versuch macht kluch, sagt der Engländer.

„So macht es durchaus Sinn, möglichst viele Vereine innerhalb einer Stadt oder einer Region zu haben“

Wir überlegten also noch immer frohen Mutes gemeinsam an einer alternativen Route und kamen überein, von der Zugstation St. Pancras unsere Reise gen Colchester zu starten, da von dort ein Zug zumindest in die richtige Richtung fährt. Aus Mangel an eigenen Ideen begleiteten mich dann sogar drei nachtlebengeschädigte junge Männer nach Colchester, um ein Spiel der dritten englischen Liga zu begutachten.

Bei nur dreißig Grad im Schatten setzten wir uns also in den Bus Richtung St. Pancras. „Dauert eine knappe halbe Stunde.“ Touristengemäß im Doppeldeckerbus auf die Plätze oben ganz vorne gesetzt. Sieht man halt alles am besten. Nach einer knappen halben Stunde dann die bange Frage: „Wie lange wohl noch?“ Ob gefühlter 100 Grad sowie stetig scheinender Sonne auf die vorderen Plätze oben war keine weitere Wortabsonderung möglich. „Ja, weiß auch nicht.“ Also Flucht auf die hinteren Plätze, wo es nur 80 Grad hatte. Nach gut einer Stunde dann die Ankunft in St. Pancras. Schön da vielleicht, aber das konnte nicht evaluiert werden, wartete doch ein Fußballmatch auf uns. Colchester lag auf dem Weg nach Ipswich und dank eines perfekten Anzeigesystems wussten wir nach fünf Minuten, dass unsere Züge auf den Gleisen 5 und 6 abfahren werden. Noch 10 Minuten bis zur Abfahrt, also keine Hektik, sondern entspanntes Aufsuchen der Gleise.

Warum neigen viele englische Stadionbesucher seit jeher zu einer gewissen Aggressivität?

Angekommen an den Gleisen ein Schild der Entschuldigung des so genannten „Station Managers“ ob der Sperrung der Gleise 5 und 6 samt der Bitte, die entstehenden Unbequemlichkeiten zu entschuldigen. „Au Mann, den Station Manager bringe ich um!“ entfuhr es einem von uns, nachdem das Hirn bei einer mehr als einstündigen Busfahrt bei 80-100 Grad schon einigen Schaden erlitten hatte. Da wir uns auf englisch unterhielten (einer der Truppe kam aus Bolton), kam auch schnellstens eine hilfsbereite junge Frau auf uns zu und erklärte uns, dass wir problemlos einen Bus-Shuttle-Verkehr nutzen könnten, der wegen der fehlenden Züge eingesetzt wurde. Die Frau hatte ein Namensschild, auf dem zuletzt die Worte „Station Manager“ standen. Insofern also verständlich das Grinsen während des britisch-typisch freundlichen Angebots, in einen Bus zu steigen, der uns bei wieder einmal durchschnittlich 90 Grad zu einem Zwischenstopp fahren sollte.

„Aber was kann man sonst tun? Rein in den Bus, schlappe 20 Minuten sauniert und dann startete der Motor.“

Aber was kann man sonst tun? Rein in den Bus, schlappe 20 Minuten sauniert und dann startete der Motor. Nach weiteren 5 Minuten fuhren wir — immerhin auf den 80 Grad-Plätzen — los in einen unbekannten Zielort. Angekommen in XY stoppte der Bus mitten im Nirgendwo. Lemmingesk tappten wir hinter allen her. Immerhin kamen wir nach knapp einem Kilometer an eine Bahnstation und landeten im zweiten Anlauf auf der richtigen Seite der Gleise. Auf Nachfrage wurden wir zu Gleis 2 gesandt, wo der Zug gen Colchester starten sollte. Ausgeschildert in Richtung London-Waterloo fragten wir einfach mal den Lokführer, ob es Richtung Colchester gehe. Die Antwort folgte schnell und überraschte uns: „Keine Ahnung.“ Aber nach der Durchsicht verschiedener Papiere im Lokführerhaus bestätigte der Mann uns ein wenig überzeugendes: „Ja wir fahren nach Colchester.“ Abfahrtszeit von jetzt an 20 Minuten, klar. Doch auch diese gingen um und wir machten uns auf in Richtung Colchester.

Ob auf ähnliche Weise der Hooliganismus im Osten Deutschlands zu erklären ist? Und die Investitionen in die dortigen Bahnhöfe und Schienennetze nicht eine Eskalation verhindern?

Warum hat die Liga 20 Vereine?

Dort angekommen hatte der Spaß ein Ende. Wir erkundigten uns nach dem besten Weg zum Stadion und der umsichtige Informationsversorger wies uns darauf hin, dass der beste Weg zum Stadion der Bus 126 sei, aber er sich nicht vorstellen könne, was wir denn dort wollten.

„In Kenntnis der Antwort hätte ich einen Rückzieher gemacht, denn das Spiel war schon vorbei.“

Erst gedachte ich, ihm keine Antwort auf diese selten bescheuerte Frage zu stellen, aber dann ließ ich mich dazu herab. In Kenntnis der Antwort hätte ich einen Rückzieher gemacht, denn das Spiel war schon vorbei. Und in der Tat, eine Anreisezeit von mehr als vier Stunden hatten wir auch gar nicht eingeplant, aber ob des großen Spaßes während der Hinreise eine Zeitkontrolle schlicht versäumt. Gut, dass ich 20 Urlaubstage habe, scherzte Jeff mit Blick auf seine Heimreise. Sogleich wunderte ich mich nicht mehr, warum die englische Liga 20 Klubs hat. Einen Tag sollte man doch nicht einer Auswärtsfahrt, sondern der Familie gönnen. Oder aber für eine weitere Reiseüberraschuung immer in der Hinterhand halten.

Warum mögen die Fans es nicht, wenn die Spieler liegen bleiben?

Nachdem wir das Ergebnis erfahren hatten (0:1 gegen Colchester United) und gern vor 2300 Uhr wieder in London sein wollten, machten wir uns also frohen Mutes auf den Heimweg. In der Hoffnung, auch nur vier Stunden zu brauchen und nicht irgendeinem notwendigen Bauprojekt zum Opfer zu fallen. Schließlich ging ja unser Flieger am Montag. Leider machten uns diverse Zugschäden einen Strich durch die Rechnung. Immerhin tröstete uns ein Einheimischer mit der Erkenntnis, dass dies eigentlich normal sei. Selbst unsere gesamte Reisegeschichte entlockte ihm nur ein müdes Lächeln. „Wisst Ihr, warum die Fußballfans es nicht leiden können, wenn ein Spieler auf dem Boden liegen bleibt?“ fragte er uns dann. „Das erinnert alle an ihre Hin- und Rückreise und daran will beim Match echt niemand denken.“